Bernd Göken, der in Mechernich lebende Geschäftsführer von Cap Anamur/Deutsche Notärzte, fesselte die Mechernicher Gymnasiasten mit seinem Vortrag
Mechernich – Man stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Am Mechernicher Bahnhof kommt eine größere Gruppe von Flüchtlingen an. Auf dem Bahnsteig stehen dichtgedrängt Einheimische, um die Neunankömmlinge begeistert in Empfang zu nehmen. So geschehen im Hamburger Hafen im Jahr 1986. Als dort die Cap Anamur II mit 400 vietnamesischen Flüchtlingen an Bord einläuft, jubeln Hunderte Deutsche bei der Ankunft. Insgesamt wurden 11.300 Vietnamflüchtlinge gerettet – und in Deutschland mit offenen Armen empfangen.
„Heute ist das anders“, sagte Bernd Göken. Der Geschäftsführer der in Köln ansässigen Hilfsorganisation Cap Anamur, der seit 2007 in Mechernich lebt, hielt in der Aula des städtischen Gymnasiums Am Turmhof (GAT) einen Vortrag vor 200 Mittel- und Oberstufenschülern. Heute stehe der ureigene Gedanke der Cap Anamur, die Rettung von Menschen auf See, unter Strafe. „Das Mittelmeer ist ein Massengrab und die Europäer sehen weg“, prangerte er an. „Die Zäune werden immer höher, die Grenzkontrollen immer militärischer. Die europäische Flüchtlingspolitik ist beschämend“, fand Göken, seit 2004 Geschäftsführer der Hilfsorganisation, deutliche Worte.
Er erinnerte an die spektakuläre Rettung von 37 afrikanischen Bootsflüchtlingen im Jahr 2004, die damit endete, dass das Einlaufen des Schiffes in Italien nach einer dreiwöchigen Irrfahrt nur durch das Ausrufen eines Notstandes an Bord erzwungen wurde und der Kapitän und drei Cap-Anamur-Helfer in Italien inhaftiert wurden. Gegen eine Kaution in Millionenhöhe kamen die Retter frei, das Schiff musste verkauft werden. „Seitdem hat Cap Anamur kein Schiff mehr und konzentriert sich auf die Aktionen an Land“, berichtete Göken den Schülern. In mehr als 50 Krisenregionen der Erde war und ist Cap Anamur/Deutsche Notärzte, wie sich die Organisation heute nennt, vor allem auf dem medizinischen Sektor tätig.
Dazu zählt beispielsweise der Kampf gegen Ebola in Sierra Leone. Dort unterstützt die Hilfsorganisation das einzige Kinderkrankenhaus des Landes. Als dort im vergangenen Sommer ein Kind mit Ebola eingeliefert wurde, hatte das dramatische Auswirkungen. Ein Großteil des Personals flüchtete, 16 Krankenschwestern starben, das Krankenhaus musste geschlossen werden. Stattdessen errichtete Cap Anamur eine Ebola-Isolierstation und löste mit dieser Hilfsaktion im September vergangenen Jahres einen Presserummel aus. Als die Hilfsorganisation hörte, dass die Bundesregierung Gelder für eine Ebola-Soforthilfe bereitstellte, nahm sie Kontakt zur zuständigen Abteilung im Auswärtigen Amt auf und stellte einen Antrag auf Förderung des Projekts. Es ging um 200.000 Euro, der Antrag wurde abgelehnt. Das Zuwendungsrecht erlaube die Förderung bereits begonnener Projekte nicht, hieß es. Die absurde Begründung löste eine große Solidaritätswelle aus, so dass die Station mit Hilfe privater Spenden fertiggestellt werden konnte. Der gescheiterte Förderantrag beim Auswärtigen Amt war der erste in der Geschichte von Cap Anamur. Bis heute hat sich die komplett durch Privatspenden finanzierte Hilfsorganisation ihre Unabhängigkeit bewahrt.
Göken selbst war zwei Tage vor seinem Vortrag vor den Mechernicher Gymnasiasten von einem Aufenthalt aus Sierra Leone zurückgekehrt. Dort hatte er unter anderem auch das von Cap Anamur unterstützte Kinderkrankenhaus besucht. Eindringlich beschrieb er den Schülern die schwierige Arbeit der Ärzte. „Der Arzt hat mir ein Kind gezeigt, dass so krank ist, dass es in einer deutschen Klinik die gesamte Aufmerksamkeit des Personals vom Chefarzt bis zur Krankenschwester beanspruchen würde. Er allein habe sechs solcher Kinder auf der Station, hat mir der Arzt gesagt.“
Trotz der sehr schwierigen Bedingungen, unter denen die Cap-Anamur-Helfer lebten und arbeiteten, sei deren Motivation hoch. „Man bekommt einfach unheimlich viel zurück“, sagte Göken.
Cap Anamur wurde 1979 von Christel und Rupert Neudeck sowie dem Schriftsteller Heinrich Böll mit Unterstützung des gemeinsamen Freundes Franz Alt gegründet. „Damals gab es nur drei Fernsehprogramme. Dementsprechend viele Menschen haben damals den wenige Minuten langen Bericht von Franz Alt über die ‚Boatpeople‘ in der Sendung ‚Report‘ gesehen“, erzählte Göken.
Heute seien die geretteten Vietnamesen ein wichtiger Teil der Bevölkerung hierzulande und ein Beispiel gelebter Integration. „Ich hoffe, dass es wieder eine Wende gibt und dass ihr als Nachfolgegeneration eine Willkommenskultur wiederaufleben lasst“, sagte er vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsproblematik.
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